Anticipatory grief oder warum wir über die Zukunft trauern

Ich erinnere mich, dass meine Mutter mal zu mir gesagt hat: „Du hast ein Gemüt wie ein Metzgerpferd!“ Was sie mir damit sagen wollte? Das mich scheinbar wenig aus der Ruhe bringt und mich wenig emotional berührt. Mit dem ersten Punkt hatte sie recht. Mich bringt wenig aus der Ruhe. Doch mit dem zweiten Punkt lag sie falsch. Mich berühren viele Sachen, ich bin sehr emotional, allerdings nur selten sichtbar für die Menschen, um mich herum. Ich bin bzgl meiner Gefühle eher introvertiert, was im Gegensatz zu meinen sonstigem Charakter steht. Ich mache Gefühle eher mit mir selber aus, bearbeite sie für mich. Das hat zur Folge, das mein Gegenüber nicht weiss, was gerade bei mir los ist. Eine Situation ist so, wie sie ist und damit muss ich umgehen. Was war oder was wäre gewesen? Das sind Fragen, die stelle ich mir selten. Doch ich merke, wie sich seit einiger Zeit etwas bei mir verändert. Ich weiß nicht, ob es am Alter oder am Mutter-sein liegt. Doch es passiert, dass ich abends wach im Bett liege und meine Gedanken um ein Thema zu kreisen beginnen. Und plötzlich sind da die Fragen: Was wäre wenn..? Wenn meinen Kindern was zustieße? Wenn mir was passierte? Welche Folgen hätte das für meine Kinder? Es beginnt ein Gedankenkarussell, was neben Verwirrung teilweise auch ein Gefühl von Panik und Traurigkeit in mir auslöst.  

Heute habe ich durch Zufall ein Interview von David Kessler in der Harvard Business Review gelesen und habe mich darin wiedergefunden.

David Kessler hat zusammen mit Elisabeth Kübler-Ross an den Trauerphasen gearbeitet. Er nennt das Phänomen der Traurigkeit über noch gar nicht vorgefallenen Situationen „Anticipatory grief“, vorwegnehmende Trauer. Wir betrauern also Dinge, die in der Zukunft passieren könnten, ohne zu wissen, ob sie wirklich eintreten, geschweige denn, wie oder wann.

Gerade in Zeiten von Corona, wo die Angst vor dem Ungewissen sich ausbreitet, wo wir den Verlust von Normalität, unserem Job oder unserer Freiheit erfahren, spüren wir diese Trauer. Wir haben Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt. Das verstärkt die Ungewissheit und damit die Angst. Wie wird das Leben nach der Pandemie? Wie wird sich unser Leben dadurch verändern? Wird sich die Ökonomie erholen können? Werde ich wieder einen Job finden? 

Wir lesen unterschiedliche Artikel, hören unterschiedliche Meinungen von Menschen in den Medien, wie unser Leben nach Corona aussehen könnte. Das alles bewegt uns und löst in uns Gefühle aus, die von Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Traurigkeit bis zu Panik, Angst oder auch Wut reichen können.

Ich weiß, woher meine Gedanken kommen, die mich von Zeit zu Zeit abends wach halten. Meine Mutter starb unerwartet mit Anfang 50, von einem Tag auf den Anderen. Daher weiß ich, dass meine Ängste nicht vollkommen unbegründet sind. Es kann passieren. Das mich solche Gedanken aufsuchen, zeigt, dass der Verlust Wunden hinterlassen und mich sensibilisiert hat. Und das ist okay, denn das ist das Leben! 

Die Frage ist aber, wie gehen wir mit diesen Gedanken, mit dieser Trauer, um? Anticipatory grief, bezeichnet eine Trauer von Situationen, Zuständen, Dingen, die noch gar nicht passiert sind, die jedoch durch unsere Gedanken darüber und die damit aufkommende Unsicherheit als Bedrohung wahrgenommen wird. 

Was in unseren Köpfen in solchen Situationen abläuft, sind oft worst-case-scenarios. Das heißt, wir stellen uns immer die Schlimmste Version einer Situation vor, ablaufen könnte sie aber auch ganz anders. 

Spüre ich also Herzrasen, wenn ich abends im Bett liege und darüber nachdenke, wie es meinen Kindern als Waisen gehen wird, ist es eher unwahrscheinlich, dass ich einen Herzinfarkt mit Todesfolge erleide, wahrscheinlicher ist, dass mein Körper auf meine negativen Gedanken und meine Ängste reagiert. Was also tun in einer solchen Situation? 

 

Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.

William Shakespeare

 

Die Gefühle sind da und die Reaktionen des Körpers auch. Also nehmen wir sie wahr, wie sie uns begegnen. Wir nehmen war, was sie in uns auslösen und akzeptieren diesen Zustand. Zu oft versuchen wir, Gefühle zu unterdrücken, aus Sorge, was sonst passieren könnte. „Wenn ich einmal anfange zu weinen, höre ich nie wieder auf.“ Oder „Wenn ich meine Gefühle (Angst, Wut etc.) zulasse, dann werden sie unkontrollierbar.“ Doch das Gegenteil ist der Fall, je mehr wir unsere Gefühle zur Kenntnis nehmen, sie zulassen und ihnen Ausdruck verleihen, desto eher beherrschen wir unsere Ängste. Dann haben wir die Chance aus ihnen zu lernen. Wir können uns weiterentwickeln und werden durch den Umgang mit ihnen gestärkt. 

Was kann ich also tun, wenn mich wieder das Gedankenkarusell einholt?

Dann muss ich mir deutlich machen, dass diese Gedanken aktuell keine Wirklichkeit sind. Stattdessen hole ich mich in die Situation zurück. Denn hier bin ich fähig zu handeln. Im Hier und Jetzt kann ich Kontrolle über mein Leben übernehmen. Was ist meine Situation? Was kann ich aktuell tun? Was kann ich verändern? Wo kann ich aktiv werden? Diese Fragen regen uns an, aktivieren uns, anstatt passiv zu ertragen, was mit uns passiert. Sie verorten uns mit der Gegenwart und lenken unseren Fokus weg vom „Was wäre, wenn..“.

 

Liege ich mit meinen Gedanken wach im Bett, atme ich bewusst tief ein und aus, das beruhigt und hilft sich zu fokussieren. Braucht es noch mehr Fokus auf das Jetzt, hilft es sich im Raum umzuschauen, wahrzunehmen was man sieht und hört. Zu spüren, wie sich die Unterlage anfühlt, auf der man sitzt, liegt und steht. Reize zu setzen, um den Körper zu spüren. Vielleicht überlegt man sich ein Mantra, einen Satz oder Spruch, den man sich in diesen Situationen aufsagt. Oder man schreibt alles auf, was einem gerade im Kopf herumspukt. So wird es vom innen nach außen getragen und befreit den Körper und die Gedanken.

 

Während ich an dem Blog gerade arbeite, sendet mir meine Freundin Zitate für meine Beiträge zu. Als wüsste sie, worüber ich gerade schreibe.

 

Nicht alle Stürme kommen, um dein Leben zu verwüsten. Manche kommen, um dir den Weg frei zu machen!

Quelle LandGang

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Kommentare: 1
  • #1

    Dana A. (Samstag, 11 April 2020 12:26)

    Ich lese Ihren Blog schon eine Weile, aber Ihr letzter Eintrag sprach mir an vielen Stellen aus der Seele und ich konnte Ihre Gedanken und Gefühle sehr gut nachempfinden; zum einen habe auch ich meine Mutter plötzlich und unerwartet verloren und zum anderen denke ich ebenfalls oft über die Zukunft nach und stelle mir ähnliche Fragen...