In sechs Wochen fährt bei uns der Umzugswagen vor. Dann ist unsere Zeit in der Bretagne vorbei. Zwei Jahre, die so schnell vergangen sind. Dann heißt es Abschied nehmen, von liebgewonnenen Freunden, atemberaubender Natur, den schönsten Strandspaziergängen. Während die Vorfreude auf das „Danach“ im Winter und während der Ausgangssperre sehr groß war und der Blick bei uns allen eher auf das Jahr Paris fokussiert war, spüren wir nun, was der Abschied wirklich bedeutet und genießen die Zeiten am Strand und mit Freunden nochmal richtig. Das Gefühl des "schnell Wegwollens" weicht und die Traurigkeit über den Abschied wächst. Und darüber bin ich froh, denn so haben wir die Chance wirklich Abschied zu nehmen.
Abschied: ein sehr individuelles Thema. Denn nicht jeder empfindet und denkt gleich darüber. Laut Statistiken gibt es rund 20% der Menschen, die oft die Herausforderung des Neuen suchen und denen „Abschied nehmen“ nicht schwerfällt. Denn für sie bedeutet Abschied der Anfang von etwas Neuem, eine neue Herausforderung, ein neuer Reiz, etwas Aufregendes. Doch 80% der Menschen bevorzugen das Gewohnte, brauchen keine oder nur wenig Veränderung im Leben. Das Erleben von Abschied ist bei ihnen also nicht so positiv, sondern vielleicht eher angstbesetzt.
Mein Mann und ich gehören eher zu den 20%. Wir lieben neue Herausforderungen, hoffen auf interessante Stellen im Ausland, fiebern Veränderungen entgegen. Die Gefahr: sich nicht wirklich einzulassen, sich emotional nicht zu binden, Abschiede nicht zu zelebrieren.
„How lucky am I to have something that makes saying goodbye so hard.“
Winnie Pooh
Durch meine Tochter habe ich gelernt, wieder mehr Wert auf Abschiede zu legen. Abschiede haben in ihrem Leben eine große Bedeutung. Als Tochter eines Marinesoldaten kennt sie Abschied nehmen, was aber nicht heißt, dass es ihr dadurch leichter fällt. Was mir durch meine Tochter aufgefallen ist, ist die Bedeutung von Kontrolle bei Abschieden. So war es meiner Tochter wichtig, Papas Kammer zu kennen, zu wissen, wo er Essen bekommt, wo er Zähne putzen und duschen kann. Auch wollte sie immer dabei sein, wenn Papas Schiff ausgelaufen ist. Das war tränenreich und schwierig, aber trotzdem notwendig für sie. Doch auch Praktikanten im Kindergarten oder in der Schule wurden an ihrem letzten Tag gebührend gefeiert, ob sie nun eine Woche oder ein Jahr da waren. Meine Tochter hatte schon im Kindergarten alle Abschiede im Kopf. Für jeden wurde dann ein Blumenstrauss gekauft, etwas zum Abschied gebastelt oder gebacken. Ein wundervolles Zeichen der Wertschätzung für die gemeinsame Zeit. Und für meine Tochter ein wichtiges Ritual, um sich mit dem Abschied und den damit einhergehenden Gefühlen auseinanderzusetzen.
„Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut.“
Arthur Schnitzer
Der Evolutionspsychologe Eric Klinger hat den Abschied von Menschen, Orten etc. als ein „psychisches Erdbeben“ bezeichnet. Das Gehirn reagiere auf Abschiede, wie bei psychischen Schmerzen. Eine krasse Vorstellung, aber umso großer wird die Bedeutung von Ritualen bei Abschieden oder warum Menschen Abschiede komplett vermeiden.
Aber warum nehmen wir Menschen Abschiede emotional unterschiedlich stark wahr? Warum reagieren Menschen unterschiedlich auf Abschiede?
Der Mensch strebt im Leben nach Bindung, das wissen wir durch die intensive Bindungsforschung. Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist die erste und wichtigste Bindungserfahrung. Sie ist wegweisend für das spätere Leben, für das Gefühl der Sicherheit, das Selbstbewusstsein und die Beziehungserfahrungen.
Sicher gebundene Kinder haben in ihren ersten Jahren Sicherheit und Geborgenheit erlebt, aber auch positive Ablösungserfahrungen von den Eltern machen können. Werden Kinder in ihren Ablösungsversuchen bestärkt, wird ihnen dadurch die Chance gegeben Selbstvertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Je selbstbewusster eine Persönlichkeit ausgeprägt ist, desto besser wird sie Veränderungen im Leben bewältigen können, so die Schlussfolgerung.
„Das Leben ist ein ewiger Abschied.“
Marcus Valerius Martialis
Es gibt viele verschiedene Arten von Abschieden, der Tod eines Menschen ist wahrscheinlich der Schmerzhaftesten, weil er ein Abschied für immer ist. Aber es gibt auch andere Abschiede, wegen eines Umzugs, von der Schule, beim Jobwechsel, von einer Partnerschaft.
Immer nehmen wir dabei Abschied von Menschen, seien es der Partner, Freunde, Kollegen, Familie. Wir nehmen Abschied von einer Vorstellung, wie unser Leben hätte laufen sollen. Wir nehmen Abschied von dem Wunsch, wie unsere Partnerschaft hätte laufen sollen. Wir nehmen Abschied von Menschen und Orten, die uns lange begleitet haben, aber uns vielleicht nicht immer gut getan haben. Egal, was die Gründe für einen Abschied sind, er schmerzt immer, selbst wenn auf der „anderen Seite“ etwas Neues, etwas aufregendes auf uns wartet. Denn das Bedürfnis nach Sicherheit ist in uns verankert, Loslassen und Neues wagen, müssen wir lernen. Und manchmal sieht man das Neue auf der anderen Seite noch gar nicht. Da sehen und spüren wir nur die Enttäuschung, die Gefühle des Versagens, die verlorene Wunschvorstellung. Doch wenn wir Lernen loszulassen, uns zu öffnen für die neuen Wege, die neuen Möglichkeiten, für einen Neubeginn, dann haben wir die Chance uns neu kennenzulernen, neue Stärken zu entdecken und uns von den Zwängen anderer zu befreien.
„If you are brave enough to say „goodbye“ life will reward you with a new hello“
Paulo Coelho
Und so verbringen wir die letzten sechs Wochen in der Bretagne, geniessen den Strand, die Zeit mit unseren Freunden, feiern „Corona-freundliche“ Abschiedsfeiern, sind traurig über das, was wir hier zurücklassen werden und freuen uns auf das, was uns das neue Abenteuer in Paris bringen wird. Und egal welche Erfahrung wir dort machen werden, bin ich mir sicher, dass wir alle daran ganz individuell wachsen werden.
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